Pinkwashing ist kein Verschwörungsmythos – erst recht kein antisemitischer

Verteidiger des Staates Israels verfolgen typischerweise einer nationalistischen Logik, die die Menschheit von Israelis verkennt und die Unterdrückung auch jüdischer Menschen dort verdeckt und unterstützt.

In ihrem Koalitionsvertrag verspricht die Ampel-Koalition, sich „gegen Versuche antisemitisch motivierter Verurteilungen Israels“ stark zu machen. Doch dieses Ziel wird längst von diversen Akteuren in Deutschland verfolgt. 

Nehmen wir, als typisches Fallbeispiel, eine Aussage des WELT-Redakteurs Frederik Schindler, der neulich auf Twitter seinen jüngsten Text gegen die renommierte Queer-Theoretikerin Jasbir Puar verteidigte. In seinem Beitrag „Keine staatlichen Gelder für Israelhass!“ vom 19.11. charakterisiert Schindler einige Positionen der US-amerikanischen Forscherin als antisemitische Verschwörungsmythen – inklusive Tatsachen, die der Staat Israel selbst längst bestätigte, zum Beispiel dass er (bis in die 1990er) Organe toter Palästinenser:innen (und Israelis) ohne Einwilligung für medizinische Forschung plünderte.

Ein antisemitischer Verschwörungsmythos stelle auch, so Schindler, der Vorwurf des Pinkwashings dar: „Wirklich total absurd“, schrieb er auf Twitter, ironisch insinuierend, „in einem verschwörungsideologischen Mythos, der sich allein gegen den einzigen jüdischen Staat richtet, und diesem ausgerechnet bei der LGBT-Gleichstellungspolitik einen bösen Vorsatz und heimtückische Propaganda unterstellt, Antisemitismus zu erkennen…”

Das erste Problem mit Schindlers Aussage ist, dass sie schlicht falsch ist: vielmehr lautet der Vorwurf, Israel benutze die relativ gute Lage von LGBT vor Ort, um Gewalt gegen Palästinenser:innen zu legitimieren, oder von ihr abzulenken. Und dieser wird ja nicht „ausgerechnet“ oder „einzig“ gegen den Staat Israel vorgebracht: explizite Vorwürfe des Pinkwashings werden in letzten Jahren unter anderem auch gegen Frankreich, die USAunzählige Konzerne, sowie auch hierzulande die AfD gehoben.

Das grundsätzliche Problem aber beginnt früher. Die Logik, wonach jede pointierte Kritik an Israel unter Generalverdacht steht, ist befremdlich. Sie hat, wie ich zeigen will, sogar etwas Judenfeindliches.

Denken wir nur an den Widerspruch in der heuchlerischen Darstellung des Staates Israel durch viele seine Fürsprecher – ob staatliche Amtsinhaber oder ausländische Volontäre: einerseits wird stets betont, wie außergewöhnlich, wie einzigartig, wie toll dieser Staat sei; andererseits gilt es als ungeheuerlich, wenn man meint, dass dieser Staat in irgendeiner Hinsicht besonders negativ auffällt. Er ist, so will man glauben, stink normal und unscheinbar, gleichzeitig aber einmalig und spektakulär.

Nun gibt es tatsächlich einiges lobenswerte an dem Fortschritt der Gleichstellung von israelischen LGBT, die über Jahrzente hinweg erkämpft wurde – wohlbemerkt: eine „LGBT-Gleichstellungspolitik“ gibt es in dem Sinne kaum. Nichtsdestotrotz steckt dieses Land in der Hinsicht noch sehr weit hinter Deutschland: wie etwa einer Studie von Pew Research vom Jahr 2019 zu entnehmen ist, in der 47% der Befragten im Staat Israel meinen, Homosexualität sollte von der Gesellschaft akzeptiert werden, gegen 83% der Befragten in der Bundesrepublik.

Die wirkliche Lage vor Ort wird vor lauter Lob gern ausgeblendet. Als eine Queere israelische Freundin von mir auf einem CSD in Leipzig 2019 versuchte, einigen Jugendlichen mit Regenbogen-Israelfahnen genau das zu erklären, wollten sie das aber beispielweise nicht glauben.

Die verfälschte Sichtweise auf die komplexe Realität der Einwohner des „einzigen jüdischen Staat“ ist eben auch eine Art, die vollwertige Menschlichkeit von Jüdinnen und Juden zu verkennen. Sie folgt nicht dem klassischen antisemitischen Muster, sondern dem philosemitischen. Wie schon häufig angemerkt, ist auch dieses in sich judenfeindlich: Jüdinnen und Juden werden als ganz anders gedacht, von der sonstigen Menschengattung irgendwie abgetrennt. Anstatt die Aussonderung von Menschen jüdischer Herkunft dezidiert zurückzuweisen, wird diese bestätigt, bloß aber positiv gewertet; dann bleibt der Streit mit den Antisemit:innen etwa nur, ob es begrüßenswert oder gefährlich ist, dass „die Juden“ angeblich so übermäßig die Kultur – wenn nicht auch Politik und Wirtschaft – beeinflussen.

Nun könnten Israelverfechter einwenden: gut, übereifriges Lob des Staats Israel ist also auch problematisch, doch man darf trotzdem keine Verteufelung dessen zulassen! Das Problem liegt aber eben darin, dass es Teufel sowieso nicht gibt, und Engel ja auch nicht – nur Menschen. Und unsere Menschlichkeit besteht unter anderem im Potenzial, Engeln in Güte zu gleichen, sowie Teufeln in Bosheit. Ted Bundy war genauso ein Mensch wie Greta Thunberg ein Mensch ist. 

Den Staat Israel als normal, als menschlich anzusehen, bedeutet, dass er und seine Bevölkerung nicht nur herausragende Leistungen und Wohltaten erbringen können, sondern auch Desaster, Verbrechen, sogar Gräueltaten. Ihnen diese Bandbreite abzusprechen, verkennt ihre Menschlichkeit – egal, ob zugunsten einer Verteufelung oder einer engelsgleichen Verklärung. Es ist in der Tat leider ganz normal, dass dieser Staat etwa manche LGBT schützt, während er andere mit Outing erpresst – wie, dem offenen Brief von dutzenden ehemaligen Soldaten der Einheit 8200 zufolge, systematisch in den palästinensischen Gebieten von ihnen und ihren Einheitskameraden mindestens bis 2018 getan wurde.

Diese Verkennung hat gefährliche Auswirkungen. Sie reproduziert hierzulande die gedankliche Aussonderung von Menschen jüdischer Herkunft, und füttert damit das Potenzial realer Aussonderung, die sich nicht auf Gedanken begrenzt. Die israelische Gesellschaft ist eben nicht monolithisch, sondern mannigfaltig, in sich gespalten und widersprüchlich. Ihre Verklärung, selbst in Verteidigung des jüdischen Volkes, hilft nicht allen Jüdinnen und Juden in Israel; manchen schadet sie tatsächlich.

Als ich im Rahmen meiner queeren Community in Tel Aviv gegen Pinkwashing demonstrierte, ging es nicht nur darum, dass Israel unsere Lage als Rechtfertigung für Gewalt gegen Palästinenser:innen missbrauchte. Es ging auch darum, dass unsere Stadt lieber Werbung für LGBT-Tourismus finanzierte, als Lösungen für die queere Jugend in Tel Aviv. Es ging auch darum, dass etwa die gute Lage von schwulen jüdischen Männern als „LGBT-Gleichstellung“ gefeiert wird, während andere – vor allem palästinensische LGBT und trans Frauen überhaupt – selbst im „gay haven“ Tel Aviv weiter Ausgrenzung und physische Gewalt erfahren.

Die Unterdrückung solcher Kritik folgt einer vertrauten nationalistischen Logik: die Nation wird als einheitliche Masse verstanden, in der jedes innere Verhältnis wie Ausbeutung oder Unterdrückung verschwindet. Wer beispielweise den Klassenkonflikt innerhalb der Nation hervorhebt wird typischerweise von Nationalist:innen als „Nestbeschmutzer“ wahrgenommen und von rechts zur Zielscheibe gemacht.

Wer hierzulande in Bezug auf Israel eine nationalistische Logik verfolgt, mag glauben, damit sei allen Juden und Jüdinnen geholfen. Aber in der Tat wird dabei unsere Menschheit verkannt. Und politisch wird damit gegen die Unterdrückten und Ausgebeuteten unter uns gekämpft.