Beiträge – Michael Sappir https://sappir.net Kritische Kommentare auf Deutsch, Englisch und Hebräisch Tue, 15 Nov 2022 18:31:39 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.8.3 https://sappir.net/wp-content/uploads/2020/07/cropped-android-chrome-512x512-2-300x300-1-150x150.png Beiträge – Michael Sappir https://sappir.net 32 32 167974999 In Israel ist die Unterstützung der Apartheid die Position der Moderaten https://sappir.net/de/2022/05/28/in-israel-ist-die-unterstutzung-der-apartheid-die-position-der-moderaten/ Sat, 28 May 2022 08:58:28 +0000 https://sappir.net/?p=9299 Wir Israelis halten das Westjordanland besetzt und haben eine große Mauer gebaut, um es aus dem Blickfeld zu halten. Sowohl die Mauer als auch die Besatzung sind für die israelische Gesellschaft unsichtbar, ein weiterer Teil des langjährigen Regimes der Trennung, auf dem sie fußt.

Am 27. Mai 2022, nahm ich Teil an einer Podiumsdiskussion, im Rahmen des „Katholikentags“ in Stuttgart, über die von Israel im Westjordanland errichtete Mauer. Ich wurde gebeten eine israelische Perspektive darzustellen. Dieser Text ist eine leicht überarbeitete, übersetzte Version davon, was ich dort auf Englisch gesagt habe.

Ich wurde gebeten, mit Ihnen zu teilen, wie wir die Mauer auf der israelischen Seite erleben. Während der Vorbereitung habe ich einige israelische Freunde gefragt, was sie aus ihrer Erfahrung erzählen können. Die Antwort war einstimmig, einfach, und deckte sich mit meinem eigenen Eindruck: Wir erleben die Mauer überhaupt nicht!

Die meisten von uns leben nicht in der Nähe der Mauer, weil sie tief im besetzten Westjordanland gebaut wurde, weit weg von den meisten Israelis. Ich bin zwar in Jerusalem aufgewachsen, und die Mauer verläuft durch meine Heimatstadt. Aber das war für uns nie ein Thema. Die Regierung sagt gerne, Jerusalem sei „unsere vereinte ewige Hauptstadt“, weil sie unter israelischer Kontrolle vereinigt ist. Aber Jerusalem ist immer noch geteilt: Ost und West, arabisch und jüdisch – und die Mauer verläuft nicht durch jüdisch-israelische Stadtteile.

In Westjerusalem leben wir also, wie in jeder jüdischen Stadt in Israel, ein relativ normales Leben. Die Mauer könnte genauso gut auf einem anderen Planeten stehen.

Im Hebräischen gibt es eine schöne Redewendung: me’ever le-hararei hachoschekh, wörtlich „jenseits dem Gebirge der Finsternis“, was „in fernen Ländern“ bedeutet. Sie wird oft ironisch verwendet, um über die Parallelwelt zu sprechen, die eine halbe Autostunde vom Zentrum Tel Avivs entfernt ist: Die Parallelwelt, in der die Gesetze von Generälen gemacht werden und es unmöglich ist, eine Genehmigung für den Bau eines neuen Hauses oder das Bohren eines neuen Brunnens zu bekommen. Die Parallelwelt, in der Soldaten eine Familie routinemäßig mitten in der Nacht aufwecken, um Fotos von allen zu machen und sie daran zu erinnern, dass sie nicht frei sind. Die Parallelwelt, in der man, wenn man in der richtigen Nation geboren wurde, alle politischen und sozialen Rechte genießt, und in der, wenn man in der falschen Nation geboren wurde, nicht einmal die grundlegenden Menschenrechte geachtet werden.

Es scheint also, dass die Mauer ihre Aufgabe erfüllt: Die Mauer ist das „Gebirge der Finsternis“, das unsere eigene militärische Besatzung in ein fernes Land verwandelt, einen Ort, der nichts mit uns zu tun hat, einen Ort, den wir ganz vergessen können.

Dank der Mauer können wir Israelis ein anderes Volk gewaltsam enteignen und kontrollieren, ohne die Konsequenzen zu tragen: den unvermeidlichen Widerstand. Aber wie wir auch in letzter Zeit immer wieder gesehen haben, ist das nicht möglich: Auf die eine oder andere Weise kommt unsere Gewalt auf uns zurück.

Trennung und Frieden

Als ich ein Kind war, bevor die Mauer gebaut wurde, habe ich geglaubt, dass wir eine große Mauer brauchen. Ich erinnere mich, dass ich Dinge sagte wie: „Wir können hier bleiben, die da können dort bleiben, und mit einer Mauer können sie nicht hierher kommen und uns bombardieren“. Oder sogar, dass wir, wenn wir eine Mauer hätten, jedes Mal, wenn sie uns angreifen, einfach ihre Seite der Mauer gnadenlos bombardieren könnten, bis sie aufhören.

In jenen Jahren war es schwer, die Besatzung zu ignorieren, weil die Angriffe des palästinensischen Widerstands unser tägliches Leben in Israel beeinflussten. Ich erinnere mich an die Angst in jenen Jahren. Wie ich mit dem Bus zur Schule fuhr und fürchtete, dass er als nächstes bombardiert wird… Wie vor jedem im Bus Angst hatte, der ein bisschen arabisch aussieht…

Ich wünschte mir nur, dass diese Gefahr aus meinem Leben verschwinden würde. Dass sie sich von meiner Welt trennen ließe.

Ich war nicht der Einzige. Es gab eine israelische „Friedensbewegung“, die in den neunziger Jahren eine Zeit lang sehr groß war, und meine Eltern gehörten ihr ebenfalls an. Und das war es, was diese Friedensbewegung vorschlug: Trennung als Rezept für „Frieden“:

„Wir bleiben hier, sie bleiben dort.“

„Zwei Staaten für zwei Nationen.“

Viele Israelis hofften, dass wir, wenn wir uns nur auf die Teilung des Landes einigen könnten, getrennt bleiben könnten und die Israelis Ruhe und Sicherheit genießen würden. Die meisten von uns waren nicht so besorgt darüber, was mit den Palästinensern geschehen würde.

Die Bedeutung von Trennung

Das Wort für Trennung im Hebräischen ist hafrada.

Das Wort für Trennung auf Afrikaans ist Apartheid.

Israelische Politiker nennen die Mauer im Westjordanland „Sicherheitsbarriere“ oder „Trennungszaun“. Ich bevorzuge die Bezeichnung „Apartheidmauer“. Sie macht deutlich, was „Trennung“ wirklich bedeutet.

Der Staat Israel begann 2002 mit dem Bau der Mauer, aber die Trennung war schon immer Teil seiner Funktionsweise.

Trennung bedeutet, dass es „jüdische Städte“ und „arabische Städte“, „jüdische Schulen“ und „arabische Schulen“ gibt. Gleich nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 wurden die arabischen Städte unter Kriegsrecht gestellt und die arabischen Schulen von der Geheimpolizei, dem Shin Bet, kontrolliert. Kurz vor der Eroberung des Westjordanlands und des Gazastreifens durch das israelische Militär im Jahr 1967 wurden diese Herrschaftssysteme aufgelockert, in den besetzten Gebieten wurde dann aber das gleiche Kriegsrecht und die gleiche geheimpolizeiliche Kontrolle angewandt.

Trennung bedeutet, dass es Menschen gibt, die ein Recht auf ein gutes, friedliches, glückliches Leben haben, und Menschen, die glücklich sein sollten, wenn sie überhaupt leben dürfen.

Trennung bedeutet, dass von dem Moment an, in dem du geboren wirst, dein Leben in eine bestimmte Richtung gelenkt wird: Wirst du alle Rechte und Privilegien des „auserwählten Volkes“ haben – oder wirst du als minderwertig, fremd und gefährlich behandelt werden?

Wenn du achtzehn wirst, erhältst du dann eine militärische Ausbildung, hochmoderne Waffen und die Erlaubnis zu töten? Oder wird es jenen jungen Soldaten erlaubt, eben dich zu töten?

Die Luft, die wir atmen

Westlich der Sperranlage, in den Gebieten, die Israel 1948 einnahm, erleben wir die Apartheidmauer nicht – aber wir erleben die Apartheid überall. Sie ist unsichtbar, wie die Luft, die wir atmen.

Für Israelis ist sie das Normalste der Welt: Das ist “unser” Land, unser Staat, unsere Armee und unsere Mauer. Das einzige Problem sind jene Leute, die darauf bestehen, dass das Land ihnen gehört.

Aber wir haben ein Recht auf Sicherheit, ein Recht auf Landnahme, ein Recht auf Leben. Und das müssen wir auch, denn wir müssen die da fernhalten. Wir müssen sie niederhalten. Und wenn das nicht klappt, müssen wir irgendwie mit ihnen fertig werden.

Die Idee der Trennung als Lösung für die Gewalt wird in der israelischen Politik nicht als extrem angesehen. Die Extremisten fordern viel schlimmere „Lösungen“. Unter dem Slogan der „jüdischen Souveränität“ rufen sie dazu auf, noch mehr Palästinenser zu vertreiben und alle zu töten, die sich wehren.

Sie werden lauter und mächtiger denn je.

Ihre Wortführer sind inzwischen regelmäßig zu Gast in politischen Talkshows. Sie haben Vertreter in der Knesset, dem israelischen Parlament, und eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass ihre Partei fast 12 Prozent der Sitze erhält. Sie sind mit dem Likud, der größten Rechtspartei, verbündet, und es besteht eine gute Chance, dass sie bald gemeinsam eine Regierung bilden werden.

Währenddessen fordern die Moderaten, die sogenannte zionistische „Linke“, eine weitere Trennung. In einem System, das auf ethnische Säuberung und Trennung fußt, fordern die Moderaten mehr Trennung, während die Extremisten zu weiterer ethnischer Säuberung aufrufen. Und gemeinsam fordern sie, dass die Welt unsere „Sicherheit“ unterstützt.

Jenseits der Parolen

Trennung, Souveränität, Sicherheit… All diese Parolen laufen auf eines hinaus: Wir leben auf einem Land, das wir einem anderen Volk mit tödlicher Gewalt weggenommen haben, einem Volk, das wir täglich mit tödlicher Gewalt unter Kontrolle zu halten versuchen – und wir wollen dies tun, ohne im Gegenzug irgendeine Gewalt zu erfahren.

Als ich ein Kind war, glaubte ich, die Lösung sei so einfach wie eine große Mauer. Tragischerweise ist sie nicht so einfach.

Es hilft sicherlich nicht, dass die Mauer tief im Westjordanland gebaut wurde, die Stadtteile in Ostjerusalem teilt und Dörfer wie Bil‘in von ihrem landwirtschaftlichen Land trennt. Es hilft auch nicht, dass die Mauer sich durch palästinensisches Land schlängelt, nicht um die israelische Sicherheit zu maximieren, sondern um die Landnahme zu maximieren.

Aber auch eine bessere Mauer würde das Problem nicht lösen. Letztlich leben unsere beiden Völker in einem Land zusammen, und es gibt keine Möglichkeit, uns durch eine Mauer sauber zu trennen, wie ich es mir als Kind vorgestellt habe. Und kein noch so starkes Wunschdenken, keine noch so vielen Waffen und keine noch so großen Mauern werden ein besetztes Volk dazu bringen, aufzugeben und einen Status zweiter Klasse in seinem eigenen Land zu akzeptieren.

Menschen, die unter Enteignung, Besatzung und Apartheid leiden, werden sich auf die eine oder andere Weise wehren.

Wir haben die Apartheidmauer, die Sicherheitsbarriere, schon seit zwanzig Jahren – aber die Israelis haben immer noch keine Sicherheit. Und wir werden niemals Sicherheit und Frieden haben, wenn wir weiterhin gewaltsam Apartheid, Trennung und Enteignung praktizieren.

Bitte helfen Sie, die israelische Apartheid und Besatzung zu beenden. Dankeschön.

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Pinkwashing ist kein Verschwörungsmythos – erst recht kein antisemitischer https://sappir.net/de/2021/12/22/pinkwashing-ist-kein-verschworungsmythos-erst-recht-kein-antisemitischer/ Wed, 22 Dec 2021 11:19:30 +0000 https://sappir.net/?p=7445 Verteidiger des Staates Israels verfolgen typischerweise einer nationalistischen Logik, die die Menschheit von Israelis verkennt und die Unterdrückung auch jüdischer Menschen dort verdeckt und unterstützt.

In ihrem Koalitionsvertrag verspricht die Ampel-Koalition, sich „gegen Versuche antisemitisch motivierter Verurteilungen Israels“ stark zu machen. Doch dieses Ziel wird längst von diversen Akteuren in Deutschland verfolgt. 

Nehmen wir, als typisches Fallbeispiel, eine Aussage des WELT-Redakteurs Frederik Schindler, der neulich auf Twitter seinen jüngsten Text gegen die renommierte Queer-Theoretikerin Jasbir Puar verteidigte. In seinem Beitrag „Keine staatlichen Gelder für Israelhass!“ vom 19.11. charakterisiert Schindler einige Positionen der US-amerikanischen Forscherin als antisemitische Verschwörungsmythen – inklusive Tatsachen, die der Staat Israel selbst längst bestätigte, zum Beispiel dass er (bis in die 1990er) Organe toter Palästinenser:innen (und Israelis) ohne Einwilligung für medizinische Forschung plünderte.

Ein antisemitischer Verschwörungsmythos stelle auch, so Schindler, der Vorwurf des Pinkwashings dar: „Wirklich total absurd“, schrieb er auf Twitter, ironisch insinuierend, „in einem verschwörungsideologischen Mythos, der sich allein gegen den einzigen jüdischen Staat richtet, und diesem ausgerechnet bei der LGBT-Gleichstellungspolitik einen bösen Vorsatz und heimtückische Propaganda unterstellt, Antisemitismus zu erkennen…”

Das erste Problem mit Schindlers Aussage ist, dass sie schlicht falsch ist: vielmehr lautet der Vorwurf, Israel benutze die relativ gute Lage von LGBT vor Ort, um Gewalt gegen Palästinenser:innen zu legitimieren, oder von ihr abzulenken. Und dieser wird ja nicht „ausgerechnet“ oder „einzig“ gegen den Staat Israel vorgebracht: explizite Vorwürfe des Pinkwashings werden in letzten Jahren unter anderem auch gegen Frankreich, die USAunzählige Konzerne, sowie auch hierzulande die AfD gehoben.

Das grundsätzliche Problem aber beginnt früher. Die Logik, wonach jede pointierte Kritik an Israel unter Generalverdacht steht, ist befremdlich. Sie hat, wie ich zeigen will, sogar etwas Judenfeindliches.

Denken wir nur an den Widerspruch in der heuchlerischen Darstellung des Staates Israel durch viele seine Fürsprecher – ob staatliche Amtsinhaber oder ausländische Volontäre: einerseits wird stets betont, wie außergewöhnlich, wie einzigartig, wie toll dieser Staat sei; andererseits gilt es als ungeheuerlich, wenn man meint, dass dieser Staat in irgendeiner Hinsicht besonders negativ auffällt. Er ist, so will man glauben, stink normal und unscheinbar, gleichzeitig aber einmalig und spektakulär.

Nun gibt es tatsächlich einiges lobenswerte an dem Fortschritt der Gleichstellung von israelischen LGBT, die über Jahrzente hinweg erkämpft wurde – wohlbemerkt: eine „LGBT-Gleichstellungspolitik“ gibt es in dem Sinne kaum. Nichtsdestotrotz steckt dieses Land in der Hinsicht noch sehr weit hinter Deutschland: wie etwa einer Studie von Pew Research vom Jahr 2019 zu entnehmen ist, in der 47% der Befragten im Staat Israel meinen, Homosexualität sollte von der Gesellschaft akzeptiert werden, gegen 83% der Befragten in der Bundesrepublik.

Die wirkliche Lage vor Ort wird vor lauter Lob gern ausgeblendet. Als eine Queere israelische Freundin von mir auf einem CSD in Leipzig 2019 versuchte, einigen Jugendlichen mit Regenbogen-Israelfahnen genau das zu erklären, wollten sie das aber beispielweise nicht glauben.

Die verfälschte Sichtweise auf die komplexe Realität der Einwohner des „einzigen jüdischen Staat“ ist eben auch eine Art, die vollwertige Menschlichkeit von Jüdinnen und Juden zu verkennen. Sie folgt nicht dem klassischen antisemitischen Muster, sondern dem philosemitischen. Wie schon häufig angemerkt, ist auch dieses in sich judenfeindlich: Jüdinnen und Juden werden als ganz anders gedacht, von der sonstigen Menschengattung irgendwie abgetrennt. Anstatt die Aussonderung von Menschen jüdischer Herkunft dezidiert zurückzuweisen, wird diese bestätigt, bloß aber positiv gewertet; dann bleibt der Streit mit den Antisemit:innen etwa nur, ob es begrüßenswert oder gefährlich ist, dass „die Juden“ angeblich so übermäßig die Kultur – wenn nicht auch Politik und Wirtschaft – beeinflussen.

Nun könnten Israelverfechter einwenden: gut, übereifriges Lob des Staats Israel ist also auch problematisch, doch man darf trotzdem keine Verteufelung dessen zulassen! Das Problem liegt aber eben darin, dass es Teufel sowieso nicht gibt, und Engel ja auch nicht – nur Menschen. Und unsere Menschlichkeit besteht unter anderem im Potenzial, Engeln in Güte zu gleichen, sowie Teufeln in Bosheit. Ted Bundy war genauso ein Mensch wie Greta Thunberg ein Mensch ist. 

Den Staat Israel als normal, als menschlich anzusehen, bedeutet, dass er und seine Bevölkerung nicht nur herausragende Leistungen und Wohltaten erbringen können, sondern auch Desaster, Verbrechen, sogar Gräueltaten. Ihnen diese Bandbreite abzusprechen, verkennt ihre Menschlichkeit – egal, ob zugunsten einer Verteufelung oder einer engelsgleichen Verklärung. Es ist in der Tat leider ganz normal, dass dieser Staat etwa manche LGBT schützt, während er andere mit Outing erpresst – wie, dem offenen Brief von dutzenden ehemaligen Soldaten der Einheit 8200 zufolge, systematisch in den palästinensischen Gebieten von ihnen und ihren Einheitskameraden mindestens bis 2018 getan wurde.

Diese Verkennung hat gefährliche Auswirkungen. Sie reproduziert hierzulande die gedankliche Aussonderung von Menschen jüdischer Herkunft, und füttert damit das Potenzial realer Aussonderung, die sich nicht auf Gedanken begrenzt. Die israelische Gesellschaft ist eben nicht monolithisch, sondern mannigfaltig, in sich gespalten und widersprüchlich. Ihre Verklärung, selbst in Verteidigung des jüdischen Volkes, hilft nicht allen Jüdinnen und Juden in Israel; manchen schadet sie tatsächlich.

Als ich im Rahmen meiner queeren Community in Tel Aviv gegen Pinkwashing demonstrierte, ging es nicht nur darum, dass Israel unsere Lage als Rechtfertigung für Gewalt gegen Palästinenser:innen missbrauchte. Es ging auch darum, dass unsere Stadt lieber Werbung für LGBT-Tourismus finanzierte, als Lösungen für die queere Jugend in Tel Aviv. Es ging auch darum, dass etwa die gute Lage von schwulen jüdischen Männern als „LGBT-Gleichstellung“ gefeiert wird, während andere – vor allem palästinensische LGBT und trans Frauen überhaupt – selbst im „gay haven“ Tel Aviv weiter Ausgrenzung und physische Gewalt erfahren.

Die Unterdrückung solcher Kritik folgt einer vertrauten nationalistischen Logik: die Nation wird als einheitliche Masse verstanden, in der jedes innere Verhältnis wie Ausbeutung oder Unterdrückung verschwindet. Wer beispielweise den Klassenkonflikt innerhalb der Nation hervorhebt wird typischerweise von Nationalist:innen als „Nestbeschmutzer“ wahrgenommen und von rechts zur Zielscheibe gemacht.

Wer hierzulande in Bezug auf Israel eine nationalistische Logik verfolgt, mag glauben, damit sei allen Juden und Jüdinnen geholfen. Aber in der Tat wird dabei unsere Menschheit verkannt. Und politisch wird damit gegen die Unterdrückten und Ausgebeuteten unter uns gekämpft.

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Der Staat Israel bietet seiner Bevölkerung keine Zukunft https://sappir.net/de/2021/05/16/der-staat-israel-bietet-seiner-bevolkerung-keine-zukunft/ Sun, 16 May 2021 08:54:00 +0000 https://sappir.net/?p=5720 Ich schreibe, damit ich nicht schreien muss. Ich schreibe, weil ich entsetzt beobachte, wie Menschen scheinbar mit den besten Absichten den Staat in Schutz nehmen, in dem ich aufgewachsen bin – den Staat und seine tödliche Politik, wegen der ich mir dort keine Zukunft mehr vorstellen konnte oder kann. Ich schreibe, weil ich gegen diese Politik aus Liebe und Sorge kämpfe.

Meine Position war nicht immer die, die ich jetzt vertrete. Ich bin wie praktisch alle jungen jüdischen Israelis im Glauben erzogen worden, dass wir unser Leben dem Staat Israel schulden – und zwar in beiden Bedeutungen. Sprich erstens, dass wir unsere Existenz dem Staat verdanken müssen, und zweitens, dass wir bereit sein sollten, unsere Existenz für ebendiesen Staat zu opfern.

Ich kann nicht leugnen, dass es mich ohne diesen Staat gar nicht gäbe: Meine Eltern haben sich in seinem Militär ja kennengelernt, meine Mutter ist als Mädchen mit ihrer Familie in diesen Staat gezogen, weil er damals, 1968, ihnen viel versprach.

Aber ich habe fast immer bezweifelt, dass ich bereit sein sollte, mein Leben für den Staat Israel zu opfern.

Leben und Tod, das muss man sagen, sind im Staat Israel und den Gebieten unter seiner Kontrolle immer im Spiel. Für Menschen, die in Frieden aufgewachsen sind, ist das, glaube ich, oft schwer zu begreifen. Für meine Generation, die während der blutigen zweiten Intifada Anfang der 2000er noch in der Schule war, war das einfach Teil des Alltags. Ich sollte nicht mehr selbständig per Bus in die Mittelschule fahren, sondern gefahren werden, weil Busse in Jerusalem zu jener Zeit oft bombardiert wurden (und weil meine Eltern sich das zeitlich und materiell leisten konnten.)

Als Jugendlicher hatte ich den Eindruck, dass der blutige Kreislauf des „Konflikts“ einfach nie endet, und ich wollte nicht mein Leben daran verlieren – ob physisch oder in dem Sinne, dass ich mein Leben dem Kampf für den Frieden widmen und opfern sollte. Das war die größte Motivation dafür, dass ich mit 19 ausgewandert bin.

Schon damals hat es mich aber beschäftigt, und das immer mehr, wieso es diesen endlosen Kreislauf von Gewalt dort zu geben scheint, und ob er doch irgendwie lösbar ist. Das ist die Motivation, die mich erst bewegt hat, mich tiefer zu informieren und meine Meinung zu entwickeln, und letztes Ende auch dazu führte, dass ich 2012 zurück nach Israel zog, um dort an den Kämpfen vor Ort teilzunehmen.

Über Jahre hinweg habe ich mich über verschiedene Quellen informiert und gelernt, was für ein Zerrbild der Gegenwart sowie der Geschichte mir in der Schule und in den gängigen Medien in Israel präsentiert wurde – ein Zerrbild, das auch gerne international reproduziert wird. Um die komplette Situation zu verstehen musste ich, erst krampfhaft, auch palästinensischen Positionen zuhören – sonst könnte ich nie begreifen, warum so viele Menschen Positionen vertreten, die mir ganz fremd und extrem vorkamen.

Die frühen Zionisten haben es schon gewusst

Mit der Zeit habe ich das verstanden, was eigentlich den führenden Figuren in den Entstehungsjahren des Staates Israel – von Ben-Gurion und Dayan bis zu ihrem Erzfeind Jabotinsky – immer klar war: Dieser Staat beruht auf der Vertreibung und gewalttätigen Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung, und man kann von letzteren nicht erwarten, ihren Widerstand einfach aufzugeben.

Der Revisionist (d.h. rechter Nationalist) Jabotinsky hat beispielsweise geglaubt, dass man erst jahrzehntelang mit eiserner Faust die jüdische Dominanz etablieren müsste – dass dann aber der palästinensische Widerstand und die Unwilligkeit der Nachbarländer nachlassen würden und ein Frieden auf Basis der Macht entstehen könnte.

Dayan hat 1956 auf der Beerdigung eines Soldaten anerkannt, dass wir nicht erwarten können, dass die Palästinenser:innen ihre Vertreibung vergessen und verzeihen, während sie noch in Flüchtlingslagern verweilen.

Diese Figuren, die für mich als gefährliche gewaltverehrende Nationalisten gelten, konnten einfach keine Alternative akzeptieren, außer einer absoluten jüdische Dominanz auf diesem Fleck Land – und waren bereit, dafür das ständige Kämpfen in Kauf zu nehmen.

Meine Generation wurde schon anders erzogen. Zumindest in meiner Kindheit in den hoffnungsvollen 90ern. Uns wurde versprochen, dass wir als normale Menschen in Frieden leben können würden.

Nur hat noch die gewalttätige Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung angehalten, vor allem in den besetzten Gebieten aber auch, wie im Oktober 2000, im offiziellen Staatsgebiet, wo die Palästinenser:innen israelische Staatsbürger sind. Und wo es gewalttätige Unterdrückung gibt, gibt es auch Widerstand, mitunter gewalttätigen.

Um 1967 sah es noch so aus, als könnte das anders werden. Erst sieben Monate vor dem Sechs-Tage-Krieg wurden die Palästinenser:innen mit israelischer Staatsbürgerschaft vom Kriegsrecht befreit. Für sieben Monate gab es keine wesentliche Minderheit unter israelischem Kriegsrecht.

Aber die Entscheidung, das Westjordanland und den Gazastreifen zu behalten und zu besetzen, hat diese Zeit beendet – und damit die Hoffnung auf Frieden, was aber selbst 40 Jahre später nicht allen klar war.

Doch einige haben es sofort erkannt. In einem berühmten Inserat hat die sozialistische Organisation Matzpen gewarnt:

“Das Recht, uns gegen Vernichtung zu wehren, gibt uns nicht das Recht, andere zu unterdrücken. Besatzung führt zu Fremdherrschaft, das führt zu Widerstand, das führt zu Unterdrückung, diese zu Terror und Gegenterror. Die Opfer von Terror sind oft unschuldige Menschen. Wenn die besetzten Gebiete gehalten werden, werden wir uns in ein Volk von Mördern und Ermordeten verwandeln. – Raus aus den besetzten Gebieten – jetzt!”

Matzpen, Ha’aretz, 22.09.1967

Mein Verständnis der Situation ist also keineswegs etwas Neues, selbst wenn ich persönlich erst durch jahrelanges Lernen und Reflektieren dort angekommen bin. Doch heißt es letzten Endes, dass ich als Ursache auch meines Leidens als Israeli, als Ursache der Aussichtslosigkeit in meinem Heimatland, die Handlungen des Staates Israel selbst erkennen muss.

Wie kann es weiter gehen?

Ich kann natürlich nichts damit anfangen, wenn jemand als „Lösung“ die Ausrottung der jüdischen Gesellschaft zwischen Fluss und Meer vorschlägt. Doch muss ich feststellen, dass dies oft an falscher Stelle unterstellt wird. Das Ende des Staates Israel wie wir ihn kennen – als Staat eines Volkes, der über zwei Völker herrscht – ist nicht mit dem Ende der Existenz seiner herrschenden Bevölkerungsgruppe gleichzusetzen.

Ich muss feststellen, dass es nur eine Zukunft für die Gesellschaft gibt, in der ich aufgewachsen bin, wenn diese die Unterdrückung der palästinensischen Gesellschaft aufgibt.

Ich mache mir große Sorgen, wenn Netanjahu offen sagt, dass wir für immer mit der Waffe in der Hand leben müssen (im Hebräischen wortwörtlich, ach so poetisch, „wir werden immer das Schwert essen“) und weiterhin die Unterstützung einer großen Masse gewinnt – und sich von einer immer größeren Masse sogar von rechts flankiert sieht.

Offenbar können sich die meisten meiner Landsleute nichts anderes vorstellen, als immer zu kämpfen, immer zu unterdrücken, immer mit Widerstand konfrontiert zu werden. Manche stellen sich einen Genozid gegen „die Araber“ als Lösung vor – immer noch eine Minderheit, aber eine die viel zu schnell wächst und in den letzten zwei Jahren zu wichtigen politischen Partnern von Netanyahu und dadurch regierungstauglich geworden sind.

Doch ich halte keine andere Position für vertretbar als zu sagen, dass der Kreislauf der Gewalt in den Händen des Staats Israels liegt, als militärische, diplomatische, und ökonomische Übermacht von den zwei Seiten – und dass wir als Israelis uns nicht das Ziel setzen können, für immer zu kämpfen. Solch eine Zukunft kann man sich doch nicht wünschen.

Der einzige akzeptable Ausweg ist das Zusammenleben mit den Palästinenser:innen.

Der einzige Weg, der dahinführt, ist der gemeinsame Kampf gegen die dominanten Kräfte, die auf ewigen Krieg setzen.

Je schneller wir Israelis die Unterdrückung als Lebensgrundlage aufgeben, je mehr wir uns Alternativen widmen, desto besser sind die Chancen, dass am Ende des Kreislaufs noch etwas übrig ist, was lebenswürdig ist – auch für die jüdische Gesellschaft im „gelobten Land.“

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Nachtrag: Kann man doch nicht links-zionistisch sein? https://sappir.net/de/2019/06/24/nachtrag-kann-man-doch-nicht-links-zionistisch-sein/ Mon, 24 Jun 2019 12:38:34 +0000 http://sappir.net/?p=113 In diesem Text möchte ich auf einen Einwand eingehen, der mehrmals in Antwort auf meinen vorherigen Text zur Auswirkung „antideutscher“ Politik auf linke Juden in Deutschland. Und zwar haben einige darauf hingewiesen, dass es in Israel doch eine „zionistische Linke“ gibt, sodass man nicht wirklich zwischen links und zionistisch wählen muss, wie von meinem Text zu verstehen war.

Bevor ich tiefer reinspringe möchte ich mich im Voraus dafür entschuldigen, dass dieser Text wahrscheinlich weniger korrektes bzw. schönes Deutsch verwenden wird, da ich den schnell rausbringen möchte und den nicht von Muttersprachlern im Voraus anschauen lasse, wie ich es mit dem vorherigen Text gemacht habe. Nach wie vor sind inhaltlich sowie sprachliche kommentare herzlich wilkommen. Ich lerne von meinen eigenen Fehlern und begrüße Hinweise darauf!

Worum es hier eigentlich geht

Ich will die Spannung nicht allzu lange halten, also schonmal vorab: natürlich kenne ich die „zionistische Linke“, ich bin sogar darin groß geworden. Ich bin aber der Meinung, dass es jedoch keine zionistische Linke gibt, sogar keine geben kann. Dieser Begriff ist, meiner Meinung nach, eine Fehlbezeichnung, und auf die werde ich gleich eingehen.

Allerdings muss ich vorerst klar machen, warum ich das im vorherigen Text nicht erwähnt habe. In jenem Text sollte es weder um politische Labels gehen, noch um spezifische ideologische Strömungen. Vielmehr ging es mir darum, was einem∗r Israeli∗n mit einer kritischen Haltung erwartet, wenn er∗sie in einer linken Szene ankommt, die durch antideutsche ideologie geprägt ist.

Und in dem Punkt ist es fast egal, ob man in Israel echt zur radikalen antizionistischen Linke gehörte, zur moderateren „post-zionistischen“, oder eben zur sogenannten „zionistischen Linke“. Denn all diese Strömungen üben im Rahmen des israelischen politischen Diskurses sehr scharfe Kritik am israelischen Regime aus, oder zumindest an seiner Politik in den palästinensischen Gebieten — Kritik die aus einer undifferenzierten antideutschen Perspektive allzu einfach als „antisemitisch“ abgetan werden kann.

Die zweideutigkeit von „Links“

Die Fehlbezeichnung von manchen politischen Strömungen in Israel heutzutage als „zionistische Linke“ liegt meines Erachtens unter anderem an einer Zweideutigkeit des Begriffs „links“. Die zwei Bedeutungen dieses Begriffs bezeichne ich mal als „relativ links“ und „ideologisch links“. Um wieder die Spannung gleich zu brechen — ich würde behaupten, es gibt eine relativ-linke Strömung im Zionismus, aber keine ideologisch-linke (oder kaum, bzw. keine kohärente — darauf gehe ich nachher noch ein.)

Was meine ich mit „relativ links“? Nun, wenn man sich die Politik als Linie zwischen „ganz weit links“ und „ganz weit rechts“ vorstellt, kann fast jede Position „relativ links“ stehen.

Wenn zum Beispiel eine Gruppe von mächtigen Aliens sich politisch auseinandersetzt, ob man die Menschheit vernichten sollte, oder sich doch lieber ein paar hundert Menschen für wissenschaftliche Zwecke aufhebt, kann letztere Position als „links“ gelten, oder auch „weniger rechts“. Oder etwas realitätsnäher — wenn man als Linker in Europa die US-amerikanische Politik betrachtet, sieht man zwei Großparteien die alle beide definitiv nicht links sind. Allerdings gilt die demokratische Partei in letzten Jahrzenten als „links“ im Vergleich mit der (bestenfalls) rechtskonservativen republikanischen Partei.

Ideologisch links ist schonmal was ganz anders. Da geht es nicht um die relative Stellung im einzelnen politischen Feld, sondern um die linke politische Tradition, die ihre Wurzeln sowie ihren Namen, soweit ich weiß, in der Zeit der französischen Revolution findet. Links ist in diesem Sinne ein anderer Name vom Sozialismus im weitesten Sinne — egal ob anarchistisch, marxistisch, oder irgendeine andere Bewegung die eben auch gegen Kapitalismus und für irgendeine Art von Kollektivbesitz der Produktionsmittel kämpft.

Der linke Flügel einer rechten Bewegung reicht höchstens in die Mitte

Jetzt ist vielleicht schon klar — in meinem vorherigen Beitrag ging es mir um letztere, ideologische Linke, und nicht um die „relative Linke“. Denn in Israel, so ähnlich wie in den USA, sind Rechtskonservative eine sehr große Macht in der Politik, während Sozialisten ganz marginal bleiben. Entsprechend werden Parteien der liberalen Mitte als „links“ bezeichnet.

Dies gilt jedefnalls in letzten Jahrzenten, wenn man betrachtet, was die Parteien, die als „zionistische Linke“ gelten, eigentlich so für ein Programm haben. Mit der ideologischen, also sozialistischen, Linke, hat das so gut wie gar nichts zu tun. Die Arbeitspartei (ha-Awoda) bezeichnet sich gerne als Zionistisch, nicht immer so gerne als links. Und ihr Programm ist neoliberal mit mäßigen sozialen Maßnahmen und eine Neigung zur besseren Integration nichtjüdischen Staatsbürger∗innen in einem Staat der jedoch durchgehend jüdischer Nationalstaat sein sollte. Linken sollten damit ein paar Probleme haben.

Mit Meretz kann man als Linke∗r eher was anfangen. Die Kernideologie dieser Partei heutzutage ist linksliberal, und da sind tatsächlich viele Unterstützer und Aktive dabei, die eindeutig ideologisch links sind — aber diese bezeichnen sich wiederum tendenziell nicht als Zionist∗innen. Die Partei selbst trägt dieses Label nicht (oder nicht mehr) von sich aus, selbst wenn sie meistens so eingeordnet wird. Es gibt viel Spannung um dieses Thema in Meretz, und die Partei könnte sich durchaus in nächsten Jahren zwischen Zionisten und Linken glatt spalten. Eine kohärente „zionistischen Linke“ lässt sich da nicht wirklich finden.

Entsprechend finde ich die Bezeichnung der sogenannten „zionistischen Linke“ als „linker Zionismus“ (hebr. ציונות שמאלית) eher zutreffend — das ist keine zionistische Strömung der Linken, sondern der (relativ) linkere Flügel der zionistischen Bewegung.

Der linke Flügel einer rechten Bewegung reicht allerdings höchstens in die Mitte hinein! Rechts bleibt er trotzdem.

Kann man nicht trotzdem (wieder) sozialistisch-zionistisch sein?

Trotz all dem, was ich bisher skizziert habe, muss ich zugeben: es gab und gibt versuche, Zionismus mit linker, also sozialistische, Ideologie zu verbinden. Diese waren sogar von großer Bedeutung in den frühen Jahren von Israel, und das trägt definitiv dazu bei, dass manche nur noch relativ-linke Strömungen als „links“ bezeichnet werden.

In Gegensatz zum linksliberalen Zionismus von Meretz und co., mit dem ich, wie erwähnt, aufgewachsen bin, kenne ich den „sozialistischen Zionismus“ nicht ganz so aus der Nähe. Allerdings ist er mir schon oft begegnet, vor allem in Form der „blauen“ Jugendverbände wie „ha-Schomer ha-Tza’ir“ und „ha-No’ar ha-Owed we-ha-Lomed“ (beide sind mit den deutschen Falken verwandt.) Auch die Kibbuzim, jene vorrangig agrarische Kollektivsiedlungen die in den früheren Jahren des Zionismus für den Staatsaufbau sehr wichtig waren, stellten diese Synthese dar.

Ich erlaube mir trotzdem, diese Synthesen nicht ganz gut zu kennen, denn sie tragen ungefähr seit den 1980ern keine wesentliche politische Kraft in Israel mehr. Die politische Parteien der sogenannten „zionistischen Linke“ — die Arbeitspartei und Meretz — schloßen sich in der vergangenen Zeit im Großen und Ganzen dem neoliberalen Konsens an, die Kibbuzim wurden fast alle aufgeteilt und privatisiert, und die sozialistisch-zionistische Synthese lebt nun nur noch ganz am Rande, praktisch nur bei jenen Jugendverbänden und selbst da nicht mehr immer ganz so prominent.

Diese Synthese wird in letzten Jahren trotzdem heftig von links kritisiert, und dieser Kritik möchte ich mich hier kurz anschließen. Denn dieser Synthese fehlt es grundsätzlich an Kohärenz, und sie lässt sich kaum mit anderer sozialistischer Ideologie konsequent vereinen.

Wie kann man Kibbuzim pauschal als „sozialistisch“ bezeichnen, wenn diese sehr oft auf Land gebaut haben, die von palästinensischen Dörfern genommen wurden als diese gewaltsam vertrieben wurden — und deren Leute dann nur noch als niedrig bezahlte Lohnarbeiter ihr ehemaliges Land betreten durften, wenn überhaupt?

Die israelische Wirtschaft baute, vor allem in ihren frühen Jahren aber nicht nur, schlicht und einfach auf kolonialen Verhältnissen: die Leute die mal da waren wurden vertrieben. Zum Teil wurden sie abgeschlachtet, andere durften bleiben, oft allerdings nicht in ihren ursprünglichen Dörfern, sondern in plötzlich überfüllten armen Kleinstädten oder in Flüchtlingslagern. Meistens wurden sie dann in der Wirtschaft und in der Entwicklung des neuen Staates lediglich als niedrig bezahlte Landwirtschafts- bzw. Bauarbeiter eingebunden, während ihre Orte bis heute immer noch zum Beispiel keine ÖPNV-Verbindungen bekommen und auch in jeder anderen Hinsicht vom Staat vernachlässigt werden. Genau wie sonstwo wurde die einheimische Bevölkerung in Armut verdrängt und als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, zum Günsten der neu angesiedelten Bevölkerung.

Koloniale Ausbeutung lässt sich nicht wirklich mit sozialismus integrieren. Mann kan nur mal links sein, mal Kolonialist. Es ergibt sich kein „linker Kolonialismus“ sondern nur ein Kolonialismus mit linken Ausreden. So muss ich leider auch, trotz aller dazu gehörende Komplexität, den sogenannten „sozialistischen Zionismus“ beurteilen.

Fazit: zurück zum Punkt

Dieser Text ist schon viel zu lang, also möchte ich als Fazit nur noch kurz meine hier aufgeführte, eher unpopläre Meinung wieder mit dem ursprünglichen Punkt in Verbindung setzen.

Man muss mir nicht ganz oder mal halbwegs in meiner Beurteilung des linken Zionismus zustimmen. Punkt ist, dass diese Diskussion, die ich hier antippe, eine ist, die unter links geprägten Jüd∗innen und insbesondere (Ex-)Israelis heiß diskutiert wird. Und ich finde, deutsche Linken könnten zu dieser Diskussion beitragen, oder zumindest davon profitieren, sie mitzubekommen. Und das alles würden „antideutsche“ Anforderungen einfach verbieten.

Das ist schade, und noch schlimmer, so wird Jüd∗innen faktisch kein Raum in linker Bewegungen in Deutschland eingeräumt. Dieser Raum wird leider in kommenden Jahren immer nötiger, denn in Israel wird es immer schwieriger und gefährlicher zu leben, nochmehr links zu sein, und wir kommen in wachsenden Zahlen hierher. Frage ist nur, ob uns hier auch die volle Teilhabe erwartet, oder eben nicht.

Ursprünglisch erschienen unter https://write.as/meemsaf/nachtrag-kann-man-doch-nicht-links-zionistisch-sein

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Dürfen Jüdinnen und Juden die deutsche Linke mitgestalten? https://sappir.net/de/2019/06/22/durfen-judinnen-und-juden-die-deutsche-linke-mitgestalten/ Sat, 22 Jun 2019 12:32:34 +0000 http://sappir.net/?p=111 Die jüdische Linke positioniert sich seit eh und je dem Zionismus – der Bewegung für einen jüdischen Nationalstaat – kritisch gegenüber. Wie das alte jiddische Lied „Oy, Ir Narishe Tsionistn“ zeigt, wollten linke Jüdinnen und Juden in Europa bleiben und den Sozialismus hier aufbauen. Ihre Gegner:innen zogen lieber nach Palästina – und ihr wisst schon, was mit denen passierte, die hier blieben.

Allerdings kommt heutzutage eine neue Generation linker Jüdinnen und Juden nach Deutschland, dazu gehöre auch ich. Wir sind in Israel aufgewachsen und fühlen uns dort immer mehr verdrängt, unterdrückt und verfolgt. Hier in Deutschland kommen wir oft besser zurecht.

Ich selbst bin in Jerusalem in einer liberal-zionistischen Familie aufgewachsen. Als weltoffene Menschen, die mit Palästinenser:innen befreundet waren und den Frieden wollten, fühlten wir uns in Jerusalem immer marginalisiert, oft sogar gehasst.

Mit 19 Jahren bin ich nach Leipzig gezogen, um dort wegzukommen und zu studieren. In meinen ersten Jahren hier habe ich mich über das Internet näher kritisch mit meinem Heimatland befasst. Nach fünf Jahren bin ich zurückgekehrt, um vor Ort für eine bessere Zukunft zu kämpfen.

Dieser Kampf hat mich kaputt gemacht. „Zum Glück“ zwar hauptsächlich psychisch und wirtschaftlich, allerdings teilweise auch durch physischen Auseinandersetzungen. Seit 2014 musste ich mehrere Prügeleien mit Rechten, sowie zwei unsanfte polizeiliche Festnahmen erleben, denn in jenem Jahr wurde es nicht mehr sicher im liberalen Tel Aviv gegen den Krieg zu demonstrieren. Mit Genossinnen und Genossen in Tel Aviv haben wir versucht unter anderem nach deutschem Vorbild antifaschistische Strukturen aufzubauen. Immer haben wir neidisch auf Deutschland mit seiner Antifa geschaut.

Als immer klarer wurde, dass sich die sowieso begrenzte, rassistisch bedingte Demokratie in Israel in eine Pseudo-Demokratie nach russischem bzw. türkischem Muster umwandelt, und ich mich nicht mehr fähig fühlte, dort weiter zu kämpfen, traf ich quälend die Entscheidung, doch wieder auszuwandern. Unter anderem wegen dem deutschen Antifaschismus habe ich mich entschlossen, wieder nach Deutschland zu ziehen, und zwar nach Leipzig, eine Stadt die ich immer liebte, und in der einige meine besten Freund*innen noch leben.

Antideutsch heißt nicht judenfreundlich

Doch wusste ich, dass es hier nicht ganz leicht wird. Sachsen ist faschistische Hochburg, und Leipzig zwar antifaschistische, allerdings auch „antideutsche“. Und aus meiner Sicht bedeutet eine antideutsche Linke doch eine antisemitische, denn wie gesagt, die jüdische Linke ist einfach nicht zionistisch. Linke Jüdinnen und Juden wie ich, aus Israel oder von anderswo, können mit unkritischer Unterstützung für jenen Staat, der in unserem Namen Millionen gewaltsam unterdrückt, und sich gerade auch mit judenfeindlichen, revisionistischen Regierungen wie der ungarischen oder polnischen anfreundet, einfach nichts anfangen.

Eine Linke die jegliches Hinterfragen des Zionismus anfeindet, feindet damit auch im Endeffekt alle linken Jüdinnen und Juden an.

Dass viele deutsche Linke den Staat Israel als Vertretung aller Jüdinnen und Juden verstehen ist für mich nachvollziehbar, denn er stellt sich als solche dar und wird darin von praktisch allen großen bürgerlichen jüdischen Organisation unterstützt. Außerdem gibt es nicht mehr so viele Juden und Jüdinnen hierzulande, auf die man sonst achten müsste, und noch weniger die öffentlichkeitswirksam eine Alternative darstellen, wie zum Beispiel „Jewish Voice for Peace“ oder „IfNotNow“ in den USA.

Allerdings wird so von der Realität der politischen Diversität jüdischer Menschen und jedem politischen Streit unter uns wegabstrahiert. Damit machen sich die großen Kämpfer:innen „gegen jeglichen Antisemitismus“ nicht zu Freund:innen und politischen Verbündeten von uns israelischen Linken, die wir doch sonst politisch so viel gemein haben. Stattdessen machen sie sich mit ihrer bedingungslosen Verteidigung des israelischen Regimes zu Verbündeten der israelischen Rechten und damit zu Verbündeten von Rassist:innen, Sexist:innen und Kriegstreiber:innen und Menschen, die homophob, nationalistisch und zutiefst anti-links sind.

Denn die pauschale Unterstützung für den „jüdischen Staat“, selbst wenn ihre Befürworter:innen angeblich jegliche Identitätspolitik ablehnen, ist reine egoistische deutsche Identitätspolitik. Sie ermöglicht Deutschen, den Anschein vom Antisemitismus zu entkommen, ohne sich tatsächlich damit zu beschäftigen, was das Leben und die volle Teilhabe von Jüdinnen und Juden in Europa möglich machen könnte. Die antideutsche Position ist gerade nur im Diskurs von und zwischen Deutschen nachvollziehbar. Ihre Anwendung auf jüdische Menschen überhaupt und insbesondere auf Israelis heißt, wir dürfen nur politisch rechts sein.

Aber genau wie diese Deutschen wollen doch auch wir linken Jüdinnen und Juden für eine bessere Welt kämpfen und haben ein dringendes Bedürfnis, den Faschismus zu stoppen. Genau wie sie, sind viele von uns zu einer linken, kritischen Position gekommen oder schon mit einer solchen aufgewachsen. Aber die antideutsche unkritische Haltung gegenüber dem israelischen Regime, die sich aus kritischer Abgrenzung zu historischem und aktuellem deutschen Antisemitismus entwickelt hat, lehnt die kritische Auseinandersetzung jüdischer Linken von den diskriminierenden Verhältnissen in Israel ab. Die antideutsche Ideologie verbietet sogar die Solidarität mit jenen, die im „jüdischen Staat“ für Freiheit, Gleichheit, und Frieden kämpfen.

Die Botschaft, die sich aus dieser sehr speziell deutschen Position ergibt, ob gewollt oder nicht, ist eine ur-antisemitische: wir Jüdinnen und Juden sollten uns „da unten“ aufhalten, und wenn wir das nicht gut finden und hierherkommen, halten wir lieber die Fresse.

Doch ich möchte mir den Platz, der meiner Oma und ihrer Familie in der deutschen Gesellschaft gewaltsam genommen wurde, wieder nehmen. Ich möchte trotz allem mein Leben hier in Deutschland führen, denn irgendwie fühle ich mich hier wohl. Und ich werde für eine Zukunft ohne Rassismus und Faschismus kämpfen, wo sich Menschen jeder Herkunft wohlfühlen und beteiligen können – sowohl für uns hier in Europa, als auch für alle in meinem Heimatland „da unten“.

Ein Wunsch und eine Bitte

Ich wünsche mir Verbündete zu finden, die erkennen, dass dem Kampf gegen Antisemitismus und dem Kampf gegen alle anderen Formen des Hasses, der Ausbeutung und der Diskriminierung dasselbe kritische Unrechtsbewusstsein und derselbe Wunsch nach einer gerechteren Welt zu Grunde liegt.

Liebe deutsche Linke, lasst eure jüdischen, israelischen und auch palästinensischen Genoss:innen zu Wort kommen, lernt die Komplexität zu verstehen und sucht nicht nach pauschalen und einfachen Antworten auf den Konflikt!
Kämpft gegen alle Ungerechtigkeit überall und solidarisiert euch mit all denen, die diesen Kampf mit euch kämpfen!
Nicht-antisemitische Kritik am israelischen Regime ist möglich — und dringend nötig!

Inhaltliche sowie grammatikalische Kommentare sind herzlich wilkommen: Kontakt.

NACHTRAG

Im Anschluss an diesen Text habe ich einen weiteren Beitrag geschrieben, und zwar zur Frage, kann man nicht doch links und zionistisch sein?

Dieser Beitrag erschien ursprünglich unter https://write.as/meemsaf/duerfen-jued_innen-die-deutsche-linke-mitgestalten und wurde seitdem stilistisch und grammatikalisch überarbeitet.

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