Wir Israelis halten das Westjordanland besetzt und haben eine große Mauer gebaut, um es aus dem Blickfeld zu halten. Sowohl die Mauer als auch die Besatzung sind für die israelische Gesellschaft unsichtbar, ein weiterer Teil des langjährigen Regimes der Trennung, auf dem sie fußt.
Am 27. Mai 2022, nahm ich Teil an einer Podiumsdiskussion, im Rahmen des „Katholikentags“ in Stuttgart, über die von Israel im Westjordanland errichtete Mauer. Ich wurde gebeten eine israelische Perspektive darzustellen. Dieser Text ist eine leicht überarbeitete, übersetzte Version davon, was ich dort auf Englisch gesagt habe.
Ich wurde gebeten, mit Ihnen zu teilen, wie wir die Mauer auf der israelischen Seite erleben. Während der Vorbereitung habe ich einige israelische Freunde gefragt, was sie aus ihrer Erfahrung erzählen können. Die Antwort war einstimmig, einfach, und deckte sich mit meinem eigenen Eindruck: Wir erleben die Mauer überhaupt nicht!
Die meisten von uns leben nicht in der Nähe der Mauer, weil sie tief im besetzten Westjordanland gebaut wurde, weit weg von den meisten Israelis. Ich bin zwar in Jerusalem aufgewachsen, und die Mauer verläuft durch meine Heimatstadt. Aber das war für uns nie ein Thema. Die Regierung sagt gerne, Jerusalem sei „unsere vereinte ewige Hauptstadt“, weil sie unter israelischer Kontrolle vereinigt ist. Aber Jerusalem ist immer noch geteilt: Ost und West, arabisch und jüdisch – und die Mauer verläuft nicht durch jüdisch-israelische Stadtteile.
In Westjerusalem leben wir also, wie in jeder jüdischen Stadt in Israel, ein relativ normales Leben. Die Mauer könnte genauso gut auf einem anderen Planeten stehen.
Im Hebräischen gibt es eine schöne Redewendung: me’ever le-hararei hachoschekh, wörtlich „jenseits dem Gebirge der Finsternis“, was „in fernen Ländern“ bedeutet. Sie wird oft ironisch verwendet, um über die Parallelwelt zu sprechen, die eine halbe Autostunde vom Zentrum Tel Avivs entfernt ist: Die Parallelwelt, in der die Gesetze von Generälen gemacht werden und es unmöglich ist, eine Genehmigung für den Bau eines neuen Hauses oder das Bohren eines neuen Brunnens zu bekommen. Die Parallelwelt, in der Soldaten eine Familie routinemäßig mitten in der Nacht aufwecken, um Fotos von allen zu machen und sie daran zu erinnern, dass sie nicht frei sind. Die Parallelwelt, in der man, wenn man in der richtigen Nation geboren wurde, alle politischen und sozialen Rechte genießt, und in der, wenn man in der falschen Nation geboren wurde, nicht einmal die grundlegenden Menschenrechte geachtet werden.
Es scheint also, dass die Mauer ihre Aufgabe erfüllt: Die Mauer ist das „Gebirge der Finsternis“, das unsere eigene militärische Besatzung in ein fernes Land verwandelt, einen Ort, der nichts mit uns zu tun hat, einen Ort, den wir ganz vergessen können.
Dank der Mauer können wir Israelis ein anderes Volk gewaltsam enteignen und kontrollieren, ohne die Konsequenzen zu tragen: den unvermeidlichen Widerstand. Aber wie wir auch in letzter Zeit immer wieder gesehen haben, ist das nicht möglich: Auf die eine oder andere Weise kommt unsere Gewalt auf uns zurück.
Trennung und Frieden
Als ich ein Kind war, bevor die Mauer gebaut wurde, habe ich geglaubt, dass wir eine große Mauer brauchen. Ich erinnere mich, dass ich Dinge sagte wie: „Wir können hier bleiben, die da können dort bleiben, und mit einer Mauer können sie nicht hierher kommen und uns bombardieren“. Oder sogar, dass wir, wenn wir eine Mauer hätten, jedes Mal, wenn sie uns angreifen, einfach ihre Seite der Mauer gnadenlos bombardieren könnten, bis sie aufhören.
In jenen Jahren war es schwer, die Besatzung zu ignorieren, weil die Angriffe des palästinensischen Widerstands unser tägliches Leben in Israel beeinflussten. Ich erinnere mich an die Angst in jenen Jahren. Wie ich mit dem Bus zur Schule fuhr und fürchtete, dass er als nächstes bombardiert wird… Wie vor jedem im Bus Angst hatte, der ein bisschen arabisch aussieht…
Ich wünschte mir nur, dass diese Gefahr aus meinem Leben verschwinden würde. Dass sie sich von meiner Welt trennen ließe.
Ich war nicht der Einzige. Es gab eine israelische „Friedensbewegung“, die in den neunziger Jahren eine Zeit lang sehr groß war, und meine Eltern gehörten ihr ebenfalls an. Und das war es, was diese Friedensbewegung vorschlug: Trennung als Rezept für „Frieden“:
„Wir bleiben hier, sie bleiben dort.“
„Zwei Staaten für zwei Nationen.“
Viele Israelis hofften, dass wir, wenn wir uns nur auf die Teilung des Landes einigen könnten, getrennt bleiben könnten und die Israelis Ruhe und Sicherheit genießen würden. Die meisten von uns waren nicht so besorgt darüber, was mit den Palästinensern geschehen würde.
Die Bedeutung von Trennung
Das Wort für Trennung im Hebräischen ist hafrada.
Das Wort für Trennung auf Afrikaans ist Apartheid.
Israelische Politiker nennen die Mauer im Westjordanland „Sicherheitsbarriere“ oder „Trennungszaun“. Ich bevorzuge die Bezeichnung „Apartheidmauer“. Sie macht deutlich, was „Trennung“ wirklich bedeutet.
Der Staat Israel begann 2002 mit dem Bau der Mauer, aber die Trennung war schon immer Teil seiner Funktionsweise.
Trennung bedeutet, dass es „jüdische Städte“ und „arabische Städte“, „jüdische Schulen“ und „arabische Schulen“ gibt. Gleich nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 wurden die arabischen Städte unter Kriegsrecht gestellt und die arabischen Schulen von der Geheimpolizei, dem Shin Bet, kontrolliert. Kurz vor der Eroberung des Westjordanlands und des Gazastreifens durch das israelische Militär im Jahr 1967 wurden diese Herrschaftssysteme aufgelockert, in den besetzten Gebieten wurde dann aber das gleiche Kriegsrecht und die gleiche geheimpolizeiliche Kontrolle angewandt.
Trennung bedeutet, dass es Menschen gibt, die ein Recht auf ein gutes, friedliches, glückliches Leben haben, und Menschen, die glücklich sein sollten, wenn sie überhaupt leben dürfen.
Trennung bedeutet, dass von dem Moment an, in dem du geboren wirst, dein Leben in eine bestimmte Richtung gelenkt wird: Wirst du alle Rechte und Privilegien des „auserwählten Volkes“ haben – oder wirst du als minderwertig, fremd und gefährlich behandelt werden?
Wenn du achtzehn wirst, erhältst du dann eine militärische Ausbildung, hochmoderne Waffen und die Erlaubnis zu töten? Oder wird es jenen jungen Soldaten erlaubt, eben dich zu töten?
Die Luft, die wir atmen
Westlich der Sperranlage, in den Gebieten, die Israel 1948 einnahm, erleben wir die Apartheidmauer nicht – aber wir erleben die Apartheid überall. Sie ist unsichtbar, wie die Luft, die wir atmen.
Für Israelis ist sie das Normalste der Welt: Das ist “unser” Land, unser Staat, unsere Armee und unsere Mauer. Das einzige Problem sind jene Leute, die darauf bestehen, dass das Land ihnen gehört.
Aber wir haben ein Recht auf Sicherheit, ein Recht auf Landnahme, ein Recht auf Leben. Und das müssen wir auch, denn wir müssen die da fernhalten. Wir müssen sie niederhalten. Und wenn das nicht klappt, müssen wir irgendwie mit ihnen fertig werden.
Die Idee der Trennung als Lösung für die Gewalt wird in der israelischen Politik nicht als extrem angesehen. Die Extremisten fordern viel schlimmere „Lösungen“. Unter dem Slogan der „jüdischen Souveränität“ rufen sie dazu auf, noch mehr Palästinenser zu vertreiben und alle zu töten, die sich wehren.
Sie werden lauter und mächtiger denn je.
Ihre Wortführer sind inzwischen regelmäßig zu Gast in politischen Talkshows. Sie haben Vertreter in der Knesset, dem israelischen Parlament, und eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass ihre Partei fast 12 Prozent der Sitze erhält. Sie sind mit dem Likud, der größten Rechtspartei, verbündet, und es besteht eine gute Chance, dass sie bald gemeinsam eine Regierung bilden werden.
Währenddessen fordern die Moderaten, die sogenannte zionistische „Linke“, eine weitere Trennung. In einem System, das auf ethnische Säuberung und Trennung fußt, fordern die Moderaten mehr Trennung, während die Extremisten zu weiterer ethnischer Säuberung aufrufen. Und gemeinsam fordern sie, dass die Welt unsere „Sicherheit“ unterstützt.
Jenseits der Parolen
Trennung, Souveränität, Sicherheit… All diese Parolen laufen auf eines hinaus: Wir leben auf einem Land, das wir einem anderen Volk mit tödlicher Gewalt weggenommen haben, einem Volk, das wir täglich mit tödlicher Gewalt unter Kontrolle zu halten versuchen – und wir wollen dies tun, ohne im Gegenzug irgendeine Gewalt zu erfahren.
Als ich ein Kind war, glaubte ich, die Lösung sei so einfach wie eine große Mauer. Tragischerweise ist sie nicht so einfach.
Es hilft sicherlich nicht, dass die Mauer tief im Westjordanland gebaut wurde, die Stadtteile in Ostjerusalem teilt und Dörfer wie Bil‘in von ihrem landwirtschaftlichen Land trennt. Es hilft auch nicht, dass die Mauer sich durch palästinensisches Land schlängelt, nicht um die israelische Sicherheit zu maximieren, sondern um die Landnahme zu maximieren.
Aber auch eine bessere Mauer würde das Problem nicht lösen. Letztlich leben unsere beiden Völker in einem Land zusammen, und es gibt keine Möglichkeit, uns durch eine Mauer sauber zu trennen, wie ich es mir als Kind vorgestellt habe. Und kein noch so starkes Wunschdenken, keine noch so vielen Waffen und keine noch so großen Mauern werden ein besetztes Volk dazu bringen, aufzugeben und einen Status zweiter Klasse in seinem eigenen Land zu akzeptieren.
Menschen, die unter Enteignung, Besatzung und Apartheid leiden, werden sich auf die eine oder andere Weise wehren.
Wir haben die Apartheidmauer, die Sicherheitsbarriere, schon seit zwanzig Jahren – aber die Israelis haben immer noch keine Sicherheit. Und wir werden niemals Sicherheit und Frieden haben, wenn wir weiterhin gewaltsam Apartheid, Trennung und Enteignung praktizieren.
Bitte helfen Sie, die israelische Apartheid und Besatzung zu beenden. Dankeschön.