Dürfen Jüdinnen und Juden die deutsche Linke mitgestalten?

Die jüdische Linke positioniert sich seit eh und je dem Zionismus – der Bewegung für einen jüdischen Nationalstaat – kritisch gegenüber. Wie das alte jiddische Lied „Oy, Ir Narishe Tsionistn“ zeigt, wollten linke Jüdinnen und Juden in Europa bleiben und den Sozialismus hier aufbauen. Ihre Gegner:innen zogen lieber nach Palästina – und ihr wisst schon, was mit denen passierte, die hier blieben.

Allerdings kommt heutzutage eine neue Generation linker Jüdinnen und Juden nach Deutschland, dazu gehöre auch ich. Wir sind in Israel aufgewachsen und fühlen uns dort immer mehr verdrängt, unterdrückt und verfolgt. Hier in Deutschland kommen wir oft besser zurecht.

Ich selbst bin in Jerusalem in einer liberal-zionistischen Familie aufgewachsen. Als weltoffene Menschen, die mit Palästinenser:innen befreundet waren und den Frieden wollten, fühlten wir uns in Jerusalem immer marginalisiert, oft sogar gehasst.

Mit 19 Jahren bin ich nach Leipzig gezogen, um dort wegzukommen und zu studieren. In meinen ersten Jahren hier habe ich mich über das Internet näher kritisch mit meinem Heimatland befasst. Nach fünf Jahren bin ich zurückgekehrt, um vor Ort für eine bessere Zukunft zu kämpfen.

Dieser Kampf hat mich kaputt gemacht. „Zum Glück“ zwar hauptsächlich psychisch und wirtschaftlich, allerdings teilweise auch durch physischen Auseinandersetzungen. Seit 2014 musste ich mehrere Prügeleien mit Rechten, sowie zwei unsanfte polizeiliche Festnahmen erleben, denn in jenem Jahr wurde es nicht mehr sicher im liberalen Tel Aviv gegen den Krieg zu demonstrieren. Mit Genossinnen und Genossen in Tel Aviv haben wir versucht unter anderem nach deutschem Vorbild antifaschistische Strukturen aufzubauen. Immer haben wir neidisch auf Deutschland mit seiner Antifa geschaut.

Als immer klarer wurde, dass sich die sowieso begrenzte, rassistisch bedingte Demokratie in Israel in eine Pseudo-Demokratie nach russischem bzw. türkischem Muster umwandelt, und ich mich nicht mehr fähig fühlte, dort weiter zu kämpfen, traf ich quälend die Entscheidung, doch wieder auszuwandern. Unter anderem wegen dem deutschen Antifaschismus habe ich mich entschlossen, wieder nach Deutschland zu ziehen, und zwar nach Leipzig, eine Stadt die ich immer liebte, und in der einige meine besten Freund*innen noch leben.

Antideutsch heißt nicht judenfreundlich

Doch wusste ich, dass es hier nicht ganz leicht wird. Sachsen ist faschistische Hochburg, und Leipzig zwar antifaschistische, allerdings auch „antideutsche“. Und aus meiner Sicht bedeutet eine antideutsche Linke doch eine antisemitische, denn wie gesagt, die jüdische Linke ist einfach nicht zionistisch. Linke Jüdinnen und Juden wie ich, aus Israel oder von anderswo, können mit unkritischer Unterstützung für jenen Staat, der in unserem Namen Millionen gewaltsam unterdrückt, und sich gerade auch mit judenfeindlichen, revisionistischen Regierungen wie der ungarischen oder polnischen anfreundet, einfach nichts anfangen.

Eine Linke die jegliches Hinterfragen des Zionismus anfeindet, feindet damit auch im Endeffekt alle linken Jüdinnen und Juden an.

Dass viele deutsche Linke den Staat Israel als Vertretung aller Jüdinnen und Juden verstehen ist für mich nachvollziehbar, denn er stellt sich als solche dar und wird darin von praktisch allen großen bürgerlichen jüdischen Organisation unterstützt. Außerdem gibt es nicht mehr so viele Juden und Jüdinnen hierzulande, auf die man sonst achten müsste, und noch weniger die öffentlichkeitswirksam eine Alternative darstellen, wie zum Beispiel „Jewish Voice for Peace“ oder „IfNotNow“ in den USA.

Allerdings wird so von der Realität der politischen Diversität jüdischer Menschen und jedem politischen Streit unter uns wegabstrahiert. Damit machen sich die großen Kämpfer:innen „gegen jeglichen Antisemitismus“ nicht zu Freund:innen und politischen Verbündeten von uns israelischen Linken, die wir doch sonst politisch so viel gemein haben. Stattdessen machen sie sich mit ihrer bedingungslosen Verteidigung des israelischen Regimes zu Verbündeten der israelischen Rechten und damit zu Verbündeten von Rassist:innen, Sexist:innen und Kriegstreiber:innen und Menschen, die homophob, nationalistisch und zutiefst anti-links sind.

Denn die pauschale Unterstützung für den „jüdischen Staat“, selbst wenn ihre Befürworter:innen angeblich jegliche Identitätspolitik ablehnen, ist reine egoistische deutsche Identitätspolitik. Sie ermöglicht Deutschen, den Anschein vom Antisemitismus zu entkommen, ohne sich tatsächlich damit zu beschäftigen, was das Leben und die volle Teilhabe von Jüdinnen und Juden in Europa möglich machen könnte. Die antideutsche Position ist gerade nur im Diskurs von und zwischen Deutschen nachvollziehbar. Ihre Anwendung auf jüdische Menschen überhaupt und insbesondere auf Israelis heißt, wir dürfen nur politisch rechts sein.

Aber genau wie diese Deutschen wollen doch auch wir linken Jüdinnen und Juden für eine bessere Welt kämpfen und haben ein dringendes Bedürfnis, den Faschismus zu stoppen. Genau wie sie, sind viele von uns zu einer linken, kritischen Position gekommen oder schon mit einer solchen aufgewachsen. Aber die antideutsche unkritische Haltung gegenüber dem israelischen Regime, die sich aus kritischer Abgrenzung zu historischem und aktuellem deutschen Antisemitismus entwickelt hat, lehnt die kritische Auseinandersetzung jüdischer Linken von den diskriminierenden Verhältnissen in Israel ab. Die antideutsche Ideologie verbietet sogar die Solidarität mit jenen, die im „jüdischen Staat“ für Freiheit, Gleichheit, und Frieden kämpfen.

Die Botschaft, die sich aus dieser sehr speziell deutschen Position ergibt, ob gewollt oder nicht, ist eine ur-antisemitische: wir Jüdinnen und Juden sollten uns „da unten“ aufhalten, und wenn wir das nicht gut finden und hierherkommen, halten wir lieber die Fresse.

Doch ich möchte mir den Platz, der meiner Oma und ihrer Familie in der deutschen Gesellschaft gewaltsam genommen wurde, wieder nehmen. Ich möchte trotz allem mein Leben hier in Deutschland führen, denn irgendwie fühle ich mich hier wohl. Und ich werde für eine Zukunft ohne Rassismus und Faschismus kämpfen, wo sich Menschen jeder Herkunft wohlfühlen und beteiligen können – sowohl für uns hier in Europa, als auch für alle in meinem Heimatland „da unten“.

Ein Wunsch und eine Bitte

Ich wünsche mir Verbündete zu finden, die erkennen, dass dem Kampf gegen Antisemitismus und dem Kampf gegen alle anderen Formen des Hasses, der Ausbeutung und der Diskriminierung dasselbe kritische Unrechtsbewusstsein und derselbe Wunsch nach einer gerechteren Welt zu Grunde liegt.

Liebe deutsche Linke, lasst eure jüdischen, israelischen und auch palästinensischen Genoss:innen zu Wort kommen, lernt die Komplexität zu verstehen und sucht nicht nach pauschalen und einfachen Antworten auf den Konflikt!
Kämpft gegen alle Ungerechtigkeit überall und solidarisiert euch mit all denen, die diesen Kampf mit euch kämpfen!
Nicht-antisemitische Kritik am israelischen Regime ist möglich — und dringend nötig!

Inhaltliche sowie grammatikalische Kommentare sind herzlich wilkommen: Kontakt.

NACHTRAG

Im Anschluss an diesen Text habe ich einen weiteren Beitrag geschrieben, und zwar zur Frage, kann man nicht doch links und zionistisch sein?

Dieser Beitrag erschien ursprünglich unter https://write.as/meemsaf/duerfen-jued_innen-die-deutsche-linke-mitgestalten und wurde seitdem stilistisch und grammatikalisch überarbeitet.